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Sonntag, 16. Februar 2014

Die weibliche Rolle in Tantra

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Swami Satyananda Saraswati auf http://www.satyananda-yoga.de
In Tantra gibt es zwei bedeutende Energieströme – Shiva und Shakti. Shakti und Shiva tragen verschiedene Sphären der Existenz und wirken sowohl im Kosmos wie auch im Individuum. In der normalen menschlichen Gesellschaft werden Shiva und Shakti jeweils durch den Mann oder die Frau repräsentiert. Im universellen Verständnis ist dies Zeit und Raum, und im spirituellen Leben werden das Mentale und die Lebenskraft von Shiva und Shakti verkörpert. In Hatha-Yoga sind diese Kräfte identisch mit Ida und Pingala; Ida als die mentale Kraft (Manas Shakti) und Pingala als die Lebenskraft (Prana Shakti).
Diese beiden Kräfte sind zwei entgegengesetzte Energiepole. Normalerweise kommen sie niemals zusammen, aber während der Schöpfung vereinigen sie sich in der ganzen Sphäre. Für das universelle Denken treffen Zeit und Raum im Kern, im Atom zusammen, und wenn sie sich begegnen, wird durch Explosion Materie erzeugt. Zeit repräsentiert die positive Energie und Raum die negative.


Aspekte des Erwachens

In unserer menschlichen Gesellschaft sind Mann und Frau die zwei gegenüberliegenden Pole der Energie. In der alten tantrischen Tradition ist über diese Energiepole bis in alle Einzelheiten diskutiert worden. Man kann Kali sehen, wie sie halb nackt mit einem Fuß auf dem liegenden Shiva steht, mit grimmigem Ausdruck, blutbefleckter Zunge und einer Mala mit 108 menschlichen Schädeln. Das ist Kali in ihrem erwachten Zustand. Es gibt auch Bilder und Figuren von Shiva im Lotussitz – die eine Hälfte des Körpers ist Shiva, die andere Shakti. Oder Shiva und Parvati als Guru und Jünger, wo Shiva seine Schülerin in die Geheimnisse von Tantra einweiht. In der Nähe von Monghyr gibt es ein sehr bedeutendes Tantra-Zentrum – Tarapeetha; hier kann man sehen, wie Shiva an der Brust von Shakti saugt.
Es gibt also verschiedene Verbindungen zwischen Shiva und Shakti, die abhängig sind von dem Grad der Evolution und dem Erwachen. Einmal ist Shakti Jüngerin und Shiva der Guru, ein anderes Mal sind sie vollkommen gleich, sogar in einem Körper, einem Rahmen, einer Idee; und wieder auf einer anderen Evolutionsstufe ist Shakti die Höchste und Shiva der Jünger. Nun, dies ist die philosophische Betrachtungsweise der Entwicklungsstufen der mächtigen Shaktikraft in jedem Einzelnen.

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Das spirituelle Erwachen einer Frau

In der tantrischen Tradition wird die Frau dem Mann gegenüber als höherstehend betrachtet, jedenfalls was die tantrische Einweihung betrifft. Dies hat keinerlei Bedeutung im sozialen Leben; es ist allein die spirituelle Betrachtungsweise im Hinblick auf die Entwicklung eines höheren Bewusstseins. Die Gestalt einer Frau, ihre Gefühle und ihre psychische Entwicklung sind ganz sicher höher entwickelt als die des Mannes. Es ist für eine Frau und ihren Körper sehr viel einfacher, die spirituelle Kraft ‘Kundalini’ zu erwecken, als für einen Mann mit seinem Körper.
Wenn ein Mann in die tieferen Ebenen seines Bewusstseins eintaucht und wieder zurückkommt, ist er nicht in der Lage, diese Erfahrungen mit sich zu bringen; einer Frau hingegen ist das möglich. Es sieht so aus, als wenn für sie kein Unterschied besteht zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung. Wenn man in sehr tiefe Bewusstseinsschichten kommt, erlebt man bestimmte Dinge. Wenn man aus dieser Tiefe zurückkommt in die grobe Wahrnehmungswelt, fällt beim Mann ein Vorhang zwischen dem tief Erlebten und dem Wachbewusstsein, und bei einer Frau fällt dieser Vorhang nicht.
Das psychische Wesen einer Frau ist hochgradig mit Spiritualität geladen. Den äußeren Ausdruck, den du bei einer Frau oder einem Mädchen finden kannst – Liebe für Schönheit, Zärtlichkeit, Sympathie, Verständnis – sind Ausdruck ihres inneren Wesens. Ich möchte wirklich behaupten, dass die Welt eine Wüste wäre, wenn alle Frauen diesen Planeten verlassen würden. Es gäbe keine Farben, kein Parfüm, kein Lächeln und keine Schönheit. Dies ist ein Zeichen dafür, dass die innere Wahrnehmung einer Frau sehr aufnahmebereit ist und kurz vor einer Explosion steht.
Laut Kundalini Yoga schlummert Kundalini, die Urlebenskraft, im Beckenraum in einem Energiezentrum mit dem Namen ‘Mooladhara Chakra’. Für den Mann ist es sehr schwer, diesen bei ihm ziemlich verstopften Raum wahrzunehmen, während Mooladhara sich im Frauenkörper sogar mit dem Finger berühren lässt. Die Erweckung kann daher im Körper der Frau viel schneller geschehen, als beim Mann.
Die Frau ist diejenige, die die Energie in Bewegung bringt und weiterträgt, während der Mann das Medium ist. Das bedeutet nicht, dass die Frau die Ehefrau sein muss, sie kann dies auch als Mutter, als Tochter oder als Jüngerin. Maria war Jesus Mutter; die ‘Mutter’ war Jüngerin von Sri Aurobindo. Die tantrische Mythologie erzählt von vierundsechzig Yoginis, die in ganz Indien hoch verehrt werden; den 64 Aspekten der weiblichen Energie zu Ehren wurden 64 Tempel erbaut.

Vama Marga

Wenn man die tantrischen Schriften studiert, kann man sehr deutlich erkennen, dass Shakti die Erschafferin ist und Shiva das Instrument. Shiva wird niemals als der Erschaffer betrachtet. Der erste Satz in einem der berühmten Werke des großen indischen Philosophen und Heiligen Adi Shankarasharya lautet: ‘Ohne Shakti, wie kann Shiva erschaffen?’
Für einen Hindu ist die Vereinigung von Mann und Frau in erster Linie die Möglichkeit, den Evolutionsprozess zu beschleunigen. Wenn auch die Verbindung von Mann und Frau zu unterschiedlichen Zeiten und je nach kulturellem Einfluss in fast allen Teilen der Welt unterschiedliche Ziele hatte, so wurde im Hinduismus konsequent daran festgehalten, dass die Verbindung zwischen Mann und Frau eine spirituelle ist. Deshalb ist der Platz der Frau in Tantra auf der linken Seite. Vor der Heirat sitzt das Mädchen auf der rechten Seite und nach der Hochzeitszeremonie sitzt sie auf der linken Seite. Sie wird ‘Vama’ genannt, was in Sanskrit so viel bedeutet, wie ‘auf der linken Seite sitzen’. Vama bezieht sich auf Ida (parasympathisches Nervensystem).

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Es gibt eine alte Sage von Sita und Rama: Als Rama schon über 60 Jahre alt war, wurde seine Frau Sita schwanger, und sie lebte einige Zeit im Ashram eines Heiligen. Als Herrscher gehörte es zu Sri Ramas Pflichten, bestimmte religiöse Rituale abzuhalten. Aber der weise Mann wusste, dass er ohne seine Frau die Zeremonien nicht ausführen konnte. Sita war jedoch nicht da, und so konstruierten sie ein Ebenbild von ihr und setzten dieses während der Zeremonie auf Ramas linke Seite. Heute ist Vama Marga in den westlichen Ländern völlig fehlinterpretiert. Sie nennen es ‘linkshändigen Tantra’, und das ist keine korrekte Übersetzung. Das sollte mit Rotstift aus Tantrabüchern ausgestrichen werden. Vama Marga ist richtig interpretiert als der Weg der spirituellen Entwicklung, den man mit seiner Frau geht. Marga bedeutet Weg und Vama bedeutet die Ehefrau, die Frau, die Partnerin, was immer sie auch ist.

Die tantrische Bedeutung

In Vama Marga ist es Shakti, die die wichtigere Rolle spielt, nicht nur im sexuellen Leben, sondern ebenso in den spirituellen Übungen; sie ist es, die den Ablauf bestimmt und die spirituellen Rituale leitet. Bei den Hindus werden alle Rituale, religiöse sowohl auch andere, hauptsächlich von Frauen abgehalten – die Männer sitzen still dabei. Ob es eine ganz normale soziale Zeremonie ist oder eine religiöse, ob es die Verehrung einer Gottheit ist oder ein Fastentag: es ist die Frau, die die Einführung gibt, und der Mann achtet sie in dieser Rolle.
Nun, die Bedeutung von Vama Marga ist folgende: Es ist der spirituelle Weg, der mit dem Partner zusammen beschritten werden kann. Es ist auch möglich, dass die Mutter ihren Sohn einweiht, dann wird das Kalachakra genannt. Auch heute kann man diese Art Einweihung besonders im Norden Indiens noch finden. In so einer Verbindung sieht der Sohn in der Mutter eine Göttin. Er verneigt sich vor ihr, verehrt sie, und zwar nicht nur aus einem sozialen Respekt heraus, sondern es ist eine von innen kommende spirituelle Verehrung; er sieht den Guru in ihr und nicht die Mutter.
Ebenso verhält es sich in Vama Marga; es ist der Mann, der sich vor der Frau verneigt und die ihm den Segen erteilt.

Es ist eine sehr wichtige Rolle, die die Frau im tantrischen Ritual spielt, und es ist ein trauriger Fehler, wenn man die Frau in Tantra nur als eine sexuelle Partnerin betrachtet. Das sexuelle Leben ist wichtig, aber es ist nicht die einzige Verbindung, die es zwischen Mann und Frau geben kann. Schließlich ist nicht nur die Ehefrau eine Frau, sondern auch die Mutter und die Tochter. Eine tantrische Verbindung ist unabhängig von einer sexuellen.

Missbrauch von Tantra

Zur Zeit rebelliert der Westen gegen seine eigene Religion und zwar ganz einfach, in dem man Tantra falsch interpretiert und missdeutet. Die Menschen versuchen, in der sexuellen Sphäre des Menschen Anarchie zu schaffen. Auch in Indien gibt es viele Lehrer, die diesen Fehler machen. In Tantra braucht man nicht mit der eigenen Religion oder Tradition zu kämpfen; hier heißt es nicht, dass Sexualität eine Sünde ist, sondern die sexuelle Vereinigung wird als ein natürliches Verlangen betrachtet; jeder kann diesem Verlangen nachgehen oder nicht, so wie er möchte. Die westliche Religion hat gelehrt, dass Sexualität eine Sünde ist; nur ein einziger Mensch ist ohne Sünde geboren, während alle anderen in Sünde geboren wurden. Menschen mit diesem Erbe müssen erst das tiefsitzende Schuldgefühl von sich abschütteln.
Mit dieser Erziehung muss man eine Erklärung für das sexuelle Leben finden, und so ist Tantra eine Art Tarnung geworden. Der tantrische Gedanke ist sehr klar und gradlinig, was diesen Punkt betrifft. In den alten Schriften kann man lesen, dass nichts dabei ist, Wein zu trinken, Fleisch zu essen und den Geschlechtsakt zu vollziehen. Dies sind natürliche Bedürfnisse des menschlichen Wesens; kann man sie jedoch transzendieren, dann wird sich ein sehr schneller spiritueller Fortschritt einstellen. Man sollte also Tantra nicht als Tarnung für irgendein Bedürfnis des menschlichen Lebens benutzen.

Die Frau kommt zuerst

Im Tantra übernimmt die Frau die Initiative. Ramakrishna Paramahamsa hat seine Frau Sarada immer als Devi, als Göttin verehrt. Als er heiratete, war er sehr jung und seine Frau war noch ein Kind, aber trotzdem hat er sie stets nur als die göttliche Mutter gesehen. Dementsprechend hat er sich immer ihr gegenüber verhalten und hat niemals etwas anderes in ihr gesehen.

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Die Frau wird im Tantrischen mit äußerster Vorsicht behandelt, denn sie ist die Hochspannungsleitung für die Kundalini-Energie. Man braucht sich nicht vor ihr zu fürchten, allerdings muss man sehr behutsam mit ihr umgehen, denn in ihr liegt die Kraft einer großen Explosion. Als Ehefrau ist sie Ehefrau, gut; aber wenn sie tantrische Partnerin im spirituellen Leben ist, dann steht ein anderer Sinn dahinter, und der ganze Ablauf ist ein anderer.
Seit undenklichen Zeiten gibt es in Indien diese Tradition. Wenn ein Paar begrüßt wird, grüßt man immer zuerst die Frau und dann den Mann. Wir sagen niemals Ram Sita, sondern Sita Ram; niemals Shyam Radhe, sondern Radhe Shyam. Rhada ist das weibliche Prinzip und Shyama ist das männliche Prinzip. Der ganzen Evolution liegt das zugrunde, Shakti kommt zuerst, dann kommt Shiva. Wenn ein Mann mit dieser Einstellung den spirituellen Weg entweder mit der Ehefrau, der Tochter, Freundin oder Schülerin betritt, wird er bemerken, dass immer die Frau die Antreibende ist und er selbst der Mitläufer, auf jeder Ebene. Auch wenn ein Mann sein höheres Bewusstsein entwickelt hat, wird er immer Schwierigkeiten haben, anderen dieses zu vermitteln, solange er nicht eine Frau bei sich hat.

Hypothese in Hatha Yoga

Nun, man sollte nicht übersehen, dass es in Tantra noch einen anderen Weg gibt: Dak-shina Marga oder auch vedischer Tantra. Hier ist eine Frau als die Führende nicht notwendig, denn jeder trägt beide Kräfte in sich. Ida ist das weibliche Prinzip, und Pingala ist das männliche Prinzip. Die Vereinigung zwischen den Kräften der Mentalität und der Vitalität ist gleichbedeutend mit der Vereinigung von Mann und Frau. Das ist die Grundlage von Hatha Yoga.
Ida ist Shakti und Pingala ist Shiva. Wenn sie sich im Ajna Chakra begegnen, dann ist das die wahre Vereinigung. Shakti hat ihren Sitz in Mooladhara. Shiva hat seinen Sitz in Sahasrara. Shiva verharrt dort in ewigem Yoga Nidra – tatenlos, unbeteiligt, namenlos und formlos. Er hat nichts zu tun mit der Zerstörung oder der Erschaffung. Sein Bewusstsein ist grenzenlos und vollkommen. Es gibt keine Bewegung, keine Schwingung in Sahasrara. Durch Yogaübungen erweckt man die Shaktikraft in Mooladhara, und irgendwann wird sie aufsteigen und sich durch Sushumna (den Rückenmarkkanal) zum Ajna Chakra bewegen. Und wenn Shakti dieses Chakra erreicht, dann vollzieht sich die Vereinigung.

Shivas Tanz

Diese Vereinigung kann sich vollziehen, wenn die beiden Energiepole zusammentreffen. Wenn man Licht einschaltet, leuchtet das Licht, weil die beiden Leitungen sich vereinigen können. Ebenso ist es im Ajna Chakra – die Vereinigung vollzieht sich, und gleichzeitig gibt es eine Explosion. Die Energie, die im Ajna Chakra erzeugt wird, bewegt sich zum Sahasrara Chakra. Shiva und Shakti verbinden sich miteinander. Während sie sich vereinigen, beginnt Shiva seinen Tanz, der Ausdruck von Nataraj. Shiva, der aus seinem tiefen Yoga Nidra erwacht, beginnt zu tanzen. Hier ist nicht die Rede von einem Mann, sondern von einer Kraft. Shivas Tanz, wie er in Nataraj ausgedrückt wird, symbolisiert das Erwachen dieser menschlichen Kraft. Shiva und Shakti bewegen sich nun zusammen auf dem gleichen Weg zurück zum Mooladhara Chakra. Sie steigen gemeinsam herunter auf die weltliche Ebene, in die grobstoffliche Erscheinungswelt. Auf diesem Weg kommen Heilige von Zeit zu Zeit zu uns. In Sri Aurobindos Philosophie kann man Zeuge von dem Erwachen dieser Energie werden, von der Vereinigung mit Shiva, von dem gemeinsamen Tanz und dem Abstieg auf unsere Existenzebene. Deshalb gibt es in Kriya Yoga aufsteigende und absteigende Wege – arohan und awarohan.

Dies ist eine Beschreibung der Frauenrolle in der tantrischen Tradition, aber in den modernen Kulturen ist das Bewusstsein weit davon entfernt. Überall auf der Welt kämpfen Menschen mit ihrer eigenen Schuld und Sünde. Wer die ursprüngliche Rolle der Frau jetzt und hier wieder aufleben lassen möchte, der muss sein eigenes inneres Verhalten verändern. Es ist notwendig, dass unsere soziale Struktur auf einem neuen Unterbau religiöser Tatsachen gegründet ist, in dem die Frauenrolle in der menschlichen Evolution in seinem ganzen Ausmaß verstanden und akzeptiert wird. Das ist Voraussetzung für das Entstehen einer neuen Gesellschaft, und jeder einzelne muss das für sich erkennen und daran arbeiten. Dann wird das, was gelebt und gelehrt wird, nicht mehr das Resultat der eigenen inneren religiösen Konflikte sein.

Bildquellen: www.pixabay.com

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