Swami Satyananda Saraswati auf http://www.satyananda-yoga.de
In Tantra gibt es zwei bedeutende Energieströme – Shiva und Shakti.
Shakti und Shiva tragen verschiedene Sphären der Existenz und wirken
sowohl im Kosmos wie auch im Individuum. In der normalen menschlichen
Gesellschaft werden Shiva und Shakti jeweils durch den Mann oder die
Frau repräsentiert. Im universellen Verständnis ist dies Zeit und Raum,
und im spirituellen Leben werden das Mentale und die Lebenskraft von
Shiva und Shakti verkörpert. In Hatha-Yoga sind diese Kräfte identisch
mit Ida und Pingala; Ida als die mentale Kraft (Manas Shakti) und
Pingala als die Lebenskraft (Prana Shakti).
Diese beiden Kräfte sind zwei entgegengesetzte Energiepole.
Normalerweise kommen sie niemals zusammen, aber während der Schöpfung
vereinigen sie sich in der ganzen Sphäre. Für das universelle Denken
treffen Zeit und Raum im Kern, im Atom zusammen, und wenn sie sich
begegnen, wird durch Explosion Materie erzeugt. Zeit repräsentiert die
positive Energie und Raum die negative.
Aspekte des Erwachens
Es gibt also verschiedene Verbindungen zwischen Shiva und Shakti, die
abhängig sind von dem Grad der Evolution und dem Erwachen. Einmal ist
Shakti Jüngerin und Shiva der Guru, ein anderes Mal sind sie vollkommen
gleich, sogar in einem Körper, einem Rahmen, einer Idee; und wieder auf
einer anderen Evolutionsstufe ist Shakti die Höchste und Shiva der
Jünger. Nun, dies ist die philosophische Betrachtungsweise der
Entwicklungsstufen der mächtigen Shaktikraft in jedem Einzelnen.
In der tantrischen Tradition wird die Frau dem Mann gegenüber als
höherstehend betrachtet, jedenfalls was die tantrische Einweihung
betrifft. Dies hat keinerlei Bedeutung im sozialen Leben; es ist allein
die spirituelle Betrachtungsweise im Hinblick auf die Entwicklung eines
höheren Bewusstseins. Die Gestalt einer Frau, ihre Gefühle und ihre
psychische Entwicklung sind ganz sicher höher entwickelt als die des
Mannes. Es ist für eine Frau und ihren Körper sehr viel einfacher, die
spirituelle Kraft ‘Kundalini’ zu erwecken, als für einen Mann mit seinem
Körper.
Wenn ein Mann in die tieferen Ebenen seines Bewusstseins eintaucht
und wieder zurückkommt, ist er nicht in der Lage, diese Erfahrungen mit
sich zu bringen; einer Frau hingegen ist das möglich. Es sieht so aus,
als wenn für sie kein Unterschied besteht zwischen innerer und äußerer
Wahrnehmung. Wenn man in sehr tiefe Bewusstseinsschichten kommt, erlebt
man bestimmte Dinge. Wenn man aus dieser Tiefe zurückkommt in die grobe
Wahrnehmungswelt, fällt beim Mann ein Vorhang zwischen dem tief Erlebten
und dem Wachbewusstsein, und bei einer Frau fällt dieser Vorhang nicht.
Das psychische Wesen einer Frau ist hochgradig mit Spiritualität
geladen. Den äußeren Ausdruck, den du bei einer Frau oder einem Mädchen
finden kannst – Liebe für Schönheit, Zärtlichkeit, Sympathie,
Verständnis – sind Ausdruck ihres inneren Wesens. Ich möchte wirklich
behaupten, dass die Welt eine Wüste wäre, wenn alle Frauen diesen
Planeten verlassen würden. Es gäbe keine Farben, kein Parfüm, kein
Lächeln und keine Schönheit. Dies ist ein Zeichen dafür, dass die innere
Wahrnehmung einer Frau sehr aufnahmebereit ist und kurz vor einer
Explosion steht.
Laut Kundalini Yoga schlummert Kundalini, die Urlebenskraft, im
Beckenraum in einem Energiezentrum mit dem Namen ‘Mooladhara Chakra’.
Für den Mann ist es sehr schwer, diesen bei ihm ziemlich verstopften
Raum wahrzunehmen, während Mooladhara sich im Frauenkörper sogar mit dem
Finger berühren lässt. Die Erweckung kann daher im Körper der Frau viel
schneller geschehen, als beim Mann.
Die Frau ist diejenige, die die Energie in Bewegung bringt und
weiterträgt, während der Mann das Medium ist. Das bedeutet nicht, dass
die Frau die Ehefrau sein muss, sie kann dies auch als Mutter, als
Tochter oder als Jüngerin. Maria war Jesus Mutter; die ‘Mutter’ war
Jüngerin von Sri Aurobindo. Die tantrische Mythologie erzählt von
vierundsechzig Yoginis, die in ganz Indien hoch verehrt werden; den 64
Aspekten der weiblichen Energie zu Ehren wurden 64 Tempel erbaut.
Vama Marga
Für einen Hindu ist die Vereinigung von Mann und Frau in erster Linie
die Möglichkeit, den Evolutionsprozess zu beschleunigen. Wenn auch die
Verbindung von Mann und Frau zu unterschiedlichen Zeiten und je nach
kulturellem Einfluss in fast allen Teilen der Welt unterschiedliche
Ziele hatte, so wurde im Hinduismus konsequent daran festgehalten, dass
die Verbindung zwischen Mann und Frau eine spirituelle ist. Deshalb ist
der Platz der Frau in Tantra auf der linken Seite. Vor der Heirat sitzt
das Mädchen auf der rechten Seite und nach der Hochzeitszeremonie sitzt
sie auf der linken Seite. Sie wird ‘Vama’ genannt, was in Sanskrit so
viel bedeutet, wie ‘auf der linken Seite sitzen’. Vama bezieht sich auf
Ida (parasympathisches Nervensystem).
Es gibt eine alte Sage von Sita und Rama: Als Rama schon über 60 Jahre alt war, wurde seine Frau Sita schwanger, und sie lebte einige Zeit im Ashram eines Heiligen. Als Herrscher gehörte es zu Sri Ramas Pflichten, bestimmte religiöse Rituale abzuhalten. Aber der weise Mann wusste, dass er ohne seine Frau die Zeremonien nicht ausführen konnte. Sita war jedoch nicht da, und so konstruierten sie ein Ebenbild von ihr und setzten dieses während der Zeremonie auf Ramas linke Seite. Heute ist Vama Marga in den westlichen Ländern völlig fehlinterpretiert. Sie nennen es ‘linkshändigen Tantra’, und das ist keine korrekte Übersetzung. Das sollte mit Rotstift aus Tantrabüchern ausgestrichen werden. Vama Marga ist richtig interpretiert als der Weg der spirituellen Entwicklung, den man mit seiner Frau geht. Marga bedeutet Weg und Vama bedeutet die Ehefrau, die Frau, die Partnerin, was immer sie auch ist.
Die tantrische Bedeutung
Nun, die Bedeutung von Vama Marga ist folgende: Es ist der
spirituelle Weg, der mit dem Partner zusammen beschritten werden kann.
Es ist auch möglich, dass die Mutter ihren Sohn einweiht, dann wird das
Kalachakra genannt. Auch heute kann man diese Art Einweihung besonders
im Norden Indiens noch finden. In so einer Verbindung sieht der Sohn in
der Mutter eine Göttin. Er verneigt sich vor ihr, verehrt sie, und zwar
nicht nur aus einem sozialen Respekt heraus, sondern es ist eine von
innen kommende spirituelle Verehrung; er sieht den Guru in ihr und nicht
die Mutter.
Ebenso verhält es sich in Vama Marga; es ist der Mann, der sich vor der Frau verneigt und die ihm den Segen erteilt.
Es ist eine sehr wichtige Rolle, die die Frau im tantrischen Ritual
spielt, und es ist ein trauriger Fehler, wenn man die Frau in Tantra nur
als eine sexuelle Partnerin betrachtet. Das sexuelle Leben ist wichtig,
aber es ist nicht die einzige Verbindung, die es zwischen Mann und Frau
geben kann. Schließlich ist nicht nur die Ehefrau eine Frau, sondern
auch die Mutter und die Tochter. Eine tantrische Verbindung ist
unabhängig von einer sexuellen.
Missbrauch von Tantra
Mit dieser Erziehung muss man eine Erklärung für das sexuelle Leben
finden, und so ist Tantra eine Art Tarnung geworden. Der tantrische
Gedanke ist sehr klar und gradlinig, was diesen Punkt betrifft. In den
alten Schriften kann man lesen, dass nichts dabei ist, Wein zu trinken,
Fleisch zu essen und den Geschlechtsakt zu vollziehen. Dies sind
natürliche Bedürfnisse des menschlichen Wesens; kann man sie jedoch
transzendieren, dann wird sich ein sehr schneller spiritueller
Fortschritt einstellen. Man sollte also Tantra nicht als Tarnung für
irgendein Bedürfnis des menschlichen Lebens benutzen.
Die Frau kommt zuerst
Die Frau wird im Tantrischen mit äußerster Vorsicht behandelt, denn sie ist die Hochspannungsleitung für die Kundalini-Energie. Man braucht sich nicht vor ihr zu fürchten, allerdings muss man sehr behutsam mit ihr umgehen, denn in ihr liegt die Kraft einer großen Explosion. Als Ehefrau ist sie Ehefrau, gut; aber wenn sie tantrische Partnerin im spirituellen Leben ist, dann steht ein anderer Sinn dahinter, und der ganze Ablauf ist ein anderer.
Seit undenklichen Zeiten gibt es in Indien diese Tradition. Wenn ein
Paar begrüßt wird, grüßt man immer zuerst die Frau und dann den Mann.
Wir sagen niemals Ram Sita, sondern Sita Ram; niemals Shyam Radhe,
sondern Radhe Shyam. Rhada ist das weibliche Prinzip und Shyama ist das
männliche Prinzip. Der ganzen Evolution liegt das zugrunde, Shakti kommt
zuerst, dann kommt Shiva. Wenn ein Mann mit dieser Einstellung den
spirituellen Weg entweder mit der Ehefrau, der Tochter, Freundin oder
Schülerin betritt, wird er bemerken, dass immer die Frau die Antreibende
ist und er selbst der Mitläufer, auf jeder Ebene. Auch wenn ein Mann
sein höheres Bewusstsein entwickelt hat, wird er immer Schwierigkeiten
haben, anderen dieses zu vermitteln, solange er nicht eine Frau bei sich
hat.
Hypothese in Hatha Yoga
Ida ist Shakti und Pingala ist Shiva. Wenn sie sich im Ajna Chakra
begegnen, dann ist das die wahre Vereinigung. Shakti hat ihren Sitz in
Mooladhara. Shiva hat seinen Sitz in Sahasrara. Shiva verharrt dort in
ewigem Yoga Nidra – tatenlos, unbeteiligt, namenlos und formlos. Er hat
nichts zu tun mit der Zerstörung oder der Erschaffung. Sein Bewusstsein
ist grenzenlos und vollkommen. Es gibt keine Bewegung, keine Schwingung
in Sahasrara. Durch Yogaübungen erweckt man die Shaktikraft in
Mooladhara, und irgendwann wird sie aufsteigen und sich durch Sushumna
(den Rückenmarkkanal) zum Ajna Chakra bewegen. Und wenn Shakti dieses
Chakra erreicht, dann vollzieht sich die Vereinigung.
Shivas Tanz
Bildquellen: www.pixabay.com
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