Neurobiologe Gerald Hüther: „Wissen kann man nicht beibringen“
 
Immer mehr Kinder in Deutschland 
leiden unter hohem Stress. Neurobiologe und Lernforscher Prof. Gerald 
Hüther sieht das jedoch nur als Symptom eines viel größeren Problems: 
„Wir behandeln unsere Kinder wie Objekte, die man nach Wunsch formen 
kann.“
Erneut gingen die 
Schüler Singapurs als Sieger des PISA-Tests hervor. Sowohl in 
Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz hat der Stadtstaat aus
 Südostasien den Rest der Welt abgehängt. Den Preis für diese 
Goldmedaille zahlen die Kinder. Tage von bis zu zwölf Stunden, 
vollgestopft mit Unterricht, Nachhilfe und sonstigen Förderprogrammen 
sind keine Seltenheit. Die Ansprüche der Eltern sind enorm, und eine 
ganze Nachhilfeindustrie profitiert davon.
 Freude am Lernen
 
Eine Tendenz, die auch 
in Deutschland erkennbar ist. Jedoch Kindern Wissen einzubläuen, nur 
weil wir Erwachsenen meinen, dass sie das am besten für den Wettbewerb 
des Lebens vorbereitet, kann langfristig auch das Gegenteil verursachen.
 „Wissen müssen sich die Kinder selbst aneignen wollen“, sagt der 
Neurobiologe und Lernforscher Prof. Gerald Hüther. Das Wichtigste was 
Schule Kindern mitgeben sollte, ist die Freude am Lernen. „Wer die 
Freude am Lernen verliert“, so Hüther, „verliert auch die Freude am 
Leben.“ Eines der Hauptprobleme in Deutschland sei jedoch, dass unser 
Schulsystem nie dafür gedacht war, lernfreudige Kinder auszubilden.
Schulen dienen mehrheitlich der Systemerhaltung
 
zum Audio mit Informationen: 2. Januar 1820 – Preußen verbietet das Turnen, weil „staatsgefährdend“

Die
 Grundidee des deutschen Bildungssystems stammt aus dem 19. Jahrhundert.
 Es galt, durch einen einheitlichen Lehrstoff und einheitliche Prüfungen
 junge Menschen auszubilden, die mit ihrem erlernten Wissen zur 
Erhaltung des Staates beitragen. Mit der sogennnten „preußischen 
Bildungsreform“ sollte die Beamtenelite von morgen geschaffen werden. 
Das Abitur als Voraussetzung für einen Studienplatz und die allgemeine 
Schulpflicht entstanden in dieser Zeit. Wissen ist Macht, war die 
Maxime. Das Kind als Subjekt mit seinen ihm eigenen Talenten, Begabungen
 und Besonderheiten stand dabei nie im Mittelpunkt.
 
 
 
 
„Wir erziehen Kinder zu Einzelkämpfern“
 
An dieser Vorstellung 
der Bildung hat sich seit damals nicht viel geändert. Doch unsere 
Gesellschaft hat es. Wettbewerb und Effizienz sind die Götter der 
modernen Ökonomiegesellschaft. Laut Hüther bedeute das für uns 
Folgendes:
 „Unsere
 gegenwärtige Gesellschaft ist im Wesentlichen eine vom Wettbewerb 
bestimmte Konsumgesellschaft, und deshalb brauchen wir Kinder, die 
möglichst wettbewerbsfähig sind. Für den Wettbewerb bereiten wir die 
Kinder optimal vor, und als Kunden bereiten wir sie insofern vor, dass 
sie aus den Schulen ja meist herauskommen und nicht wissen, was sie 
eigentlich wollen, wozu sie da sind und wozu das Lernen überhaupt gut 
ist. Wir erziehen sie zu Einzelkämpfern.“  Gerald Hüther
„Unsere
 gegenwärtige Gesellschaft ist im Wesentlichen eine vom Wettbewerb 
bestimmte Konsumgesellschaft, und deshalb brauchen wir Kinder, die 
möglichst wettbewerbsfähig sind. Für den Wettbewerb bereiten wir die 
Kinder optimal vor, und als Kunden bereiten wir sie insofern vor, dass 
sie aus den Schulen ja meist herauskommen und nicht wissen, was sie 
eigentlich wollen, wozu sie da sind und wozu das Lernen überhaupt gut 
ist. Wir erziehen sie zu Einzelkämpfern.“  Gerald Hüther 
 
 
Damit erliegen wir einem
 doppelten Trugschluss. Aus Sicht der modernen Lernforschung kann man 
niemanden dazu bringen, sich vorselektierten Lernstoff dauerhaft 
anzueignen, wenn man es nicht gleichzeitig schafft, Begeisterung für das
 zu Lernende zu erzeugen. Oder wieviel wissen Sie noch aus Ihrer 
Schulzeit?
Darüber hinaus bereiten 
wir auf diese Weise niemanden auf die Herausforderungen der zukünftigen 
Arbeitswelt vor. In Zeiten, in denen man sich beinahe jedes Wissen der 
Welt angoogeln kann, bräuchte man eher Nachwuchskräfte, die dieses 
Wissen, welches sie sich gerne angeeignet haben, kreativ umsetzen 
können. Wer braucht schon einen Handwerker, der weiß, was ein 
Schraubenzieher ist, aber nicht weiß, was er damit tun soll?
Belohnung und Bestrafung ist „Abrichtung und Dressur“
 
Ein erster Schritt hin 
zu selbstverantwortlichen und kreativ denkenden Kindern könnte zu Hause 
gemacht werden. Kinder zu belohnen, wenn sie etwas gut gemacht haben 
oder eben zu bestrafen und zu rügen, wenn sie etwas falsch gemacht 
haben, mag an sich logisch klingen, hat aber auch mindestens genauso 
logische Nachteile.
Man dürfe das natürlich machen, meint Gerald Hüther aber: „Das
 ist Abrichtung und Dressur wie bei Tieren im Zirkus.“ Diese dressierten
 Kinder „machen zur Not sogar Abitur mit 1,0, aber sie haben sich nicht 
entfaltet, sondern sind in einer bestimmten Weise zu Recht gebogen 
worden.“ 
Kritik an Chefs der Weltkonzerne
 
Ohne jemanden namentlich
 zu nennen, richtet der Lernforscher dabei eine direkte Kritik an die 
Chefetagen der großen Weltkonzerne. Darin säßen Entscheider, die die 
beste Bildung erhalten hätten, jedoch wohl eine Bildung, die offenbar 
nicht dazu geführt hätte, dass diese Personen „so etwas wie ein Gewissen
 oder eine Selbstachtung oder eine Würde entwickelt haben, die sie dazu 
veranlassen würde, ihre Unternehmen auf eine Art und Weise zu führen, 
die dazu beiträgt, dass andere nicht darunter leiden.“
Was für eine Welt wollen wir eigentlich?
 
Wir erhalten ein 
Jahrhunderte altes Schulsystem aufrecht und messen Kinder zu stark an 
unseren Erwartungen, konditionieren sie sogar wie Tiere, wenn man Gerald
 Hüther Glauben schenken mag. Das alles, obwohl wir nur das Beste 
wollen. Doch woher sollten wir es auch besser wissen? Wir sind doch 
selbst durch dieses System gegangen, wurden an den gleichen Maßstäben 
gemessen.
Genau hier verorten 
Kritiker wie Gerald Hüther das Grundproblem. Die Ausbildung unserer 
Kinder, die Morallosigkeit unseres Wirtschaftssystems und auch unsere 
Vorstellung einer gut gemeinten Erziehung seien Symptome einer nicht 
geführten Gesellschaftsdebatte. Bevor wir darüber geredet hätten, in 
welcher Welt wir eigentlich leben wollen, hätten wir angefangen zu 
wirtschaften. Die Wirtschaft sollte eigentlich dem Menschen dienen, doch
 mittlerweile dienten wir der Wirtschaft. Debatten über 
Wirtschaftsethik, Bildungspolitik oder Erziehung gingen somit die 
unbequeme Frage voraus: Was für eine Welt wollen wir eigentlich?
Kinder brauchen eine stabile Vertrauensbasis
 
Wir könnten dieses 
Fundament laut Hüther jedoch stärken. Wenn wir Kindern mehr Freiheiten 
ließen, lernten sie Vertrauen in sich selbst. Wenn wir für unsere Kinder
 bei Problemen tätig würden, anstatt ihnen „einfach nur über den Kopf zu
 streicheln“, hätten sie mehr Vertrauen in Andere. Wenn wir ihnen sagten
 und vorlebten: „Egal was kommt, es wird wieder gut!“, dann hätten sie 
mehr Vertrauen in das Leben an sich. Daraus bestünde das Fundament, das 
unsere Kinder in der Wettbewerbsgesellschaft stärken könne, meint der 
Neurobiologe.
Die Zukunft der Arbeit
 
Ob man Gerald Hüthers 
Gedanken nun folgen mag oder nicht, etwas müssen wir ändern. Denn längst
 haben wir Werkzeuge erfunden, die schneller und effektiver arbeiten als
 wir. Jungen Menschen einfach viel Wissen beizubringen und ihnen 
vorzugaukeln, mit einem Abitur seien sie für die Zukunft bestens 
vorbereitet, ist vorgestrig. Keine moderne Gesellschaft braucht 
Nachwuchs, der mit seinem Schulwissen zu den Datenmengen von Google und 
Co. in Konkurrenz tritt.
Die Zukunft der 
Arbeitswelt besteht aus Problemlösern und kreativ denkenden Köpfen, die 
wissen, wann und wozu sie welches Wissen brauchen, wo sie es herbekommen
 und wie sie es am besten anwenden. Es braucht Menschen, die richtig 
Lust darauf haben, sich ständig neues Wissen anzueignen, weil es ihnen 
Spaß macht und nicht weil sie müssen. Wir sind dazu verpflichtet ihnen 
genau das beizubringen. Wer weiß, vielleicht erziehen wir genau so die 
Menschen, die sich irgendwann zu fragen trauen: Was für eine Welt wollen
 wir eigentlich?