F. William Engdahl
Im Laufe der Jahre war ich mindestens ein Dutzend Mal in China.
Dort habe ich mit Politikern aller Ebenen gesprochen und dabei eines
gelernt: Wenn Peking seine Politik ändert, dann stets vorsichtig und
wohlüberlegt. Und wenn ein neuer Konsens erreicht ist, wird er überall
mit bemerkenswerter Effizienz umgesetzt. Das ist das Geheimnis des nun
schon 30 Jahre währenden Wirtschaftswunders. Jetzt hat die chinesische
Führung wieder eine politische Entscheidung getroffen, die unsere Welt
in den nächsten zehn Jahren verändern wird.
Am 29. November 2014, während Washington mit dem Versuch beschäftigt war, Putins Russland zu destabilisieren, fand in Peking ein kaum beachtetes,
aber höchst bedeutungsvolles Treffen statt. Nämlich die Zentrale
Konferenz über Arbeit in ausländischen Angelegenheiten. Dort hielt Xi
Jingping, Chinas Präsident und Chef der zentralen Militärkommission,
eine, wie es hieß, »wichtige Rede«.
Beim sorgfältigen Lesen der offiziellen Erklärung des Außenministeriums
bestätigt sich, dass diese Rede tatsächlich »wichtig« war. Die zentrale
Führung Chinas vollzieht offiziell eine strategische Wende in den
geopolitischen Prioritäten ihrer Außenpolitik.
China betrachtet die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und auch zur EU nicht mehr als oberste Priorität.
Vielmehr definiert die chinesische Führung auf ihrer sorgsam erwogenen
geopolitischen Landkarte eine neue Gruppe von Ländern, die Priorität
erhalten. Dazu zählen Russland und die übrigen BRICS-Staaten, Chinas
asiatische Nachbarn sowie Afrika und andere Entwicklungsländer.
Um die Veränderung in die richtige Perspektive zu rücken: Noch 2012
wurden die außenpolitischen Prioritäten Chinas in einem generellen
Rahmen festgelegt. Da waren: Großmächte (hauptsächlich USA, EU, Japan
und Russland), Peripherie (alle an China grenzenden Länder),
Entwicklungsländer (alle Länder mit niedrigem Volkseinkommen,
einschließlich China), multinationale Organisationen (UN, APEC, ASEAN, IWF, Weltbank usw.) sowie die staatliche Diplomatie, die weltweit festlegt, in welcher Situation sich China engagiert. Eindeutig ist man in China inzwischen der Ansicht, diese Interessen seien nicht mehr von Vorteil.
In seiner Ansprache bei dem Treffen betonte Präsident Xi eine
Subkategorie von Entwicklungsländern: »große Mächte auf dem Weg der
Entwicklung (kuoda fazhanzhong de guojia)«. China wird »die Kooperation
ausweiten und die Entwicklung unseres Landes« mit der dieser sich
entwickelnden großen Mächte »verbinden«. Nach Ansicht chinesischer
Intellektueller gelten diese Länder als besonders wichtige Partner »bei
der Reform der internationalen Ordnung«. Dazu zählen Russland,
Brasilien, Südafrika, Indien – Chinas BRICS-Partner – plus Indonesien
undMexiko. Auch dass sich China selbst nicht mehr als »Entwicklungsland«
bezeichnet, ist ein Hinweis auf ein verändertes Selbstbild.
Vize-Außenminister Liu Zhenmin verwies bei der Konferenz in Peking auf
einen wichtigen Aspekt der neuen Politik, als er erklärte, das
»Ungleichgewicht zwischen Asiens politischer Sicherheit und
wirtschaftlicher Entwicklung« sei zum »vorrangigen Thema« geworden.
Durch die von China vorgeschlagene »Gemeinschaft mit vereintem Ziel«
soll dieses Ungleichgewicht behoben werden. Gemeint sind engere
wirtschaftliche und diplomatische Verbindungen zu Südkorea, Japan,
Indien, Indonesien sowie Vietnam und den Philippinen.
Mit anderen Worten: Auch wenn die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten
angesichts von Amerikas militärischer und finanzieller Macht weiterhin
eine Priorität bleiben, können wir erwarten, dass sich China in Zukunft
deutlicher gegen eine amerikanische Einmischung aussprechen wird. Das
zeigte sich bereits im Oktober, als das offizielle Blatt China Daily während
der Hongkonger »Regenschirm-Revolution« in einem Leitartikel fragte:
»Warum betreibt Washington Farbenrevolutionen?« Namentlich wurde der
Vizedirektor der staatlich finanzierten amerikanischen NGO National Endowment for Democracyals
Beteiligter aufgeführt. Solche Direktheit wäre noch vor sechs Jahren
undenkbar gewesen, als Washington versuchte, Peking im Vorfeld der
Olympischen Spiele 2008 durch gewalttätige Proteste der
Dalai-Lama-Bewegung in Tibet bloßzustellen.
Offen weist China inzwischen die übliche westliche Kritik zur Lage der
Menschenrechte zurück und legte kürzlich nach einem Treffen der
Regierung von Kamerun mit dem Dalai Lama diediplomatischen Beziehungen
auf Eis. Ebenso die Beziehungen zu Norwegen, nachdem die dortige
Regierung den Dissidenten Liu Xiaobo anerkannte. Im letzten Jahr hat
Peking die Kritik aus Washington über die historischen Ansprüche im
Südchinesischen Meer zurückgewiesen.
Die bedeutsamste Entwicklung ist aber wohl, dass China jetzt offen den
Plan verfolgt, alternative Institutionen zum US-kontrollierten IWF und
der Weltbank aufzubauen. Wenn dieser Plan gelingt, bedeutet er einen
potenziell vernichtenden Schlag für die wirtschaftliche Macht der USA.
Als Gegenmaßnahme gegen den amerikanischen Versuch, China durch die
Gründung einer Transpazifischen Partnerschaft (TPP) zu isolieren, hat Peking eine eigene chinesische Vision einer Freihandelszone im asiatisch-pazifischen Raum (FTAAP) angekündigt,
eine »umfassende« Handelsvereinbarung, bei der »es nur Gewinner gibt«
und die wirklich eine asiatisch-pazifische Kooperation fördert.
Vertiefung der Beziehungen zu Russland
Gegenwärtig wird deutlich, dass China entschlossen ist, die Beziehungen
zu Putins Russland zur neuen Priorität zu machen. Nach Jahrzehnten des
Misstrauens nach dem chinesisch-sowjetischen Bruch 1960 arbeiten beide
Länder nun in nie dagewesener Weise zusammen. Durch die wirtschaftlichen
Beziehungen zwischen beiden Ländern entsteht der einzige potenzielle
»Herausforderer« einer zukünftigen globalen Vorherrschaft Amerikas, die
der US-Stratege Zbigniew Brzeziński 1997 in seinem Buch Die einzige Weltmacht beschrieb.
Zu einer Zeit, wo Putin von Wirtschaftssanktionen der NATO bedrängt
wird, die seine Regierung zu Fall bringen sollen, unterzeichnet China
nicht einen, sondern gleich mehrere gigantische Verträge mit den
russischen staatlichen Unternehmen Gazprom und Rosneft über
Energielieferungen, durchdie Russland die zurzeit bedrohten
Energieexporte nach Europa kompensieren könnte – für die russische
Wirtschaft eine Frage des Überlebens.
Während der APEC-Konferenz in Peking im vergangenen November
wurde Obama durch China unmissverständlich diplomatisch abgewertet, als
er für das offizielle Foto neben der Frau eines der asiatischen
Präsidenten stehen musste, während Putin seinen Platz neben Xi einnahm.
In der Politik, insbesondere der chinesischen, nehmen Symbole einen
wichtigen Teil der Kommunikation ein.
Bei der gleichen Gelegenheit eigneten sich Xi und Putin auf den Bau der Gaspipeline West Route von Sibirien nach China, zusätzlich zu der historisch bedeutsamen East Route Pipeline, auf
die sich beide Länder bereits im Mai verständigt hatten. Wenn beide
fertiggestellt sind, wird Russland darüber 40 Prozent des in China
verbrauchten Erdgases liefern. Ebenfalls bei der Pekinger Konferenz
kündigte der Chef des russischen Generalstabs signifikante neue Felder
der Zusammenarbeit zwischen den russischen Streitkräften und der chinesischen Volksbefreiungsarmee an.
Mitten in Washingtons Währungskrieg gegen den russischen Rubel zeigt
sich China bereit, seinem russischen Partner im Notfall beizuspringen.
Am 20. November, als der Rubel gegenüber dem Dollar dramatisch
abstürzte, erklärte Außenminister Wang Yi, China werde nötigenfalls zu
Hilfe kommen, er sei zuversichtlich, dass Russland die wirtschaftlichen
Schwierigkeiten überwinden werde. Gleichzeitig sagte Handelsminister Gao
Hucheng, die Ausweitung eines Währungsswaps zwischen beiden Ländern und
der verstärkte Einsatz des Yuan im bilateralen Handel würden Russland
am meisten helfen.
Es gibt weitere Synergien zwischen Russland und China, darunter Putins
Entschluss zu einem Treffen mit dem nordkoreanischen Präsidenten im
kommenden Frühjahr und zur Verbesserung derBeziehungen zu Indien, einem
langjährigen Verbündeten Russlands, mit dem China seit den 1950er Jahren
sehr fragile Beziehungen unterhält.
Außerdem hat Russland eine starke Position gegenüber Vietnam, die in die
Zeit des Kalten Krieges und die Entwicklung vietnamesischer Ölvorkommen
vor der Küste durch russische Ölgesellschaften zurückreicht.
Beide Länder werden also bei einer Harmonisierung der geopolitischen
Strategie Brzezińskis schlimmsten geopolitischen Albtraum Wirklichkeit
werden lassen – hauptsächlich dank der törichten Politik der
Washingtoner neokonservativen Kriegsfalken, Präsident Obamas und der
sehr reichen Familien, die die Rechnungen bezahlen.
All die genannten Schritte sind nicht ohne Gefahr, zeigen aber, dass
China das geopolitische Spiel Washingtons wirklich genauso versteht wie
die Strategie der neokonservativen US-Kriegsfalken und, genauso wie
Putins Russland, nicht vorhat, vor einer empfundenen globalen Tyrannei
Washingtons in die Knie zu gehen. Das Jahr 2015 entwickelt sich zu einem
der entscheidendsten und interessantesten der neueren Geschichte.
Quelle Kopp Online
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